Wake-up Call – Digitale Messen & Showrooms

J'N'C 2-2020
J'N'C 2-2020

Dieser Artikel erschien in J’N’C Ausgabe 2-2020

Diese Branche lebt von persönlichen Interaktionen. Der Großteil navigiert seinen beruflichen Kalender um zahlreiche Messeveranstaltungen, Shows und Showroom-Events. Was, wenn all diese Termine plötzlich wegfallen?

Asia Apparel Expo, Bangladesch Denim Expo, CFDA Fashion Awards, Chic Shanghai, Copenhagen Fashion Summit, Expo Riva Schuh und Gardabags, Ispo Beijing, Kingpins Amsterdam und Hong Kong, Men’s Fashion Week in London, Paris, Mailand und New York, Mercedes Benz Fashion Week Australia, Modefabriek, Outdoor by Ispo, Panorama Berlin & Selvedge Run + Zeitgeist, Performance Days, Pitti Uomo, die View in Paris und viele mehr. Abgesagt oder verschoben. Allein in Deutschland wurden laut Expodatabase.de von den bislang 327 Messen rund 161 auf einen neuen Termin verschoben. 97 wurden komplett abgesagt und 70 haben noch keinen neuen Termin.

Die Premium Berlin, Seek und Neonyt suchen derzeit nach alternativen Terminen,  die Bekanntgabe der neuen Termine wird zum Ende dieses Monats sehnsüchtig erwartet, denn auch wenn zum Redaktionsschluss noch keine offizielle Verschiebung kundgegeben wurde, so ist allen klar, dass diese drei Messen nicht zum geplanten Datum stattfinden werden. Dennoch: ‚Cancelled’ könnte das Unwort des Jahres werden – zumindest in der Modebranche. Absagen und Verschiebungen von Messen und Showroom-Events gehören urplötzlich zum Tagesgeschäft und die Industrie reagiert mit der Zeit zunehmend weniger geschockt, wirkt vielmehr erleichtert. Denn niemand will jetzt irgendwo hinreisen, sich wirtschaftlich verpflichten, wo es nicht sein muss und ohnehin wirkt es vollkommen absurd, sich in naher Zukunft freiwillig in Menschenmassen zu begeben – selbst, wenn die jeweiligen Regierungen es zulassen würden. Wir haben uns ja nicht nur zum gesundheitlichen Wohl voneinander temporär distanziert, sondern auch von der Idee, alles wie gewohnt zu handhaben. Hat nicht unlängst ein überraschend radikales Umdenken gegenüber Prioritäten stattgefunden? Und wo finden gerade Messen ihren Platz in diesem entstandenen Vakuum?

THE QUEST TO NEW HEIGHTS

Messen und Ausstellungen sind laut FAMA (Fachverband Messen und Ausstellungen) „unverzichtbare Plattformen“ für Unternehmen wie Besucher und damit für die Wirtschaftskraft: Der Beitrag der deutschen Messewirtschaft zur gesamten Wirtschaftsleistung beläuft sich auf jährlich rund 28 Milliarden Euro. Laut einer Studie des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung sichern Messen in Deutschland pro Jahr mehr als 230.000 Arbeitsplätze.
Die Panorama Berlin und Selvedge Run + Zeitgeist haben ihre Veranstaltung gänzlich abgesagt – und das bereits Mitte März. Nachdem sie sich im Januar mit neuem Konzept auf dem Flughafen Tempelhof neu aufgestellt hatten, sah es für den Sommer zunächst nicht schlecht aus. Doch eine Pandemie ist dann doch zu viel. Nun arbeiten Jörg Wichmann und sein Team an einer digitalen Lösung, die der Messe vielleicht sogar einen ungeahnten Vorteil verschaffen könnte.

Die für den April abgesagte Performance Days lässt hingegen ihre Trends digital aufarbeiten. „Auch wenn sich in dieser aktuell sehr herausfordernden Situation Aussteller und Besucher nicht persönlich auf unserer Messe treffen können, werden wir Wege finden, die Branche über die neuesten Produkte und Trends zu informieren“, so Senior Marketing Managerin Lena Weimer. 
Sich digital neu aufzustellen, das scheint für viele jetzt eine kurzfristige Lösung zu sein. Andrew Olah, Gründer der Kingpins Show, reagierte auf die abgesagte April-Veranstaltung erstaunlich schnell und kündigte nur wenige Tage später das digitale, zweitägige ‚Kingpins 24’-Event an. “We believe Kingpins24 can give our global industry a chance to connect and share information. We have no other desire but to be a conduit for the denim world during these difficult times, where most of us, including me, are at home far away from our normal world“, so Olah. Das 48-Stunden-Event soll zwar kein Ersatz der Kingpins Show in Amsterdam sein, aber Live Streams von Panel Diskussionen, Interviews und anderer Aussteller Content können trotzdem stattfinden und beweisen, dass die Digitalisierung auch bei Messen initiiert werden kann – wenn es denn sein muss. Digitaler Fortschritt, so muss man offen zugeben, war nicht immer der Messeveranstalter Freund. Doch nun könnte genau jene deren Überleben sichern.

VIRTUAL REALITY 

Und was ist eigentlich mit Showrooms? Zahlreiche Order werden genau dort, in kleiner und großer Runde geschrieben, sie dienen als Hub für Marken, Einzelhändler und Medien. Sie sind kleiner als Messen, doch nicht minder einflussreich. Und auch hier wird schnell reagiert. Zahlreiche Agenturen feilen an neuen Businessmodellen, um nicht nur während, sondern auch nach der Pandemie gut gerüstet zu sein. Die internationale Agentur Karla Otto stellte sich beispielsweise für April kurzfristig digital auf: „For Autumn/Winter 2020, we will launch a digital showcase via Instagram. […] Here, we will present highlights of the collections and achievements from our global client portfolio in fashion, design, beauty, lifestyle, and arts & culture“, kündigt das Unternehmen via Email an. Größere Showroom-Veranstaltungen wie The Welcome Edition Showroom in Paris werden ebenfalls digital stattfinden. Gründer Mark Batista: „The Welcome Edition Online Showroom is launching on the 25th June and has already over 60 collections preparing to show SS21. W.E. Online Showroom is a world class solution to the current challenges facing our industry and will be an essential resource for both retailers and brands both in the coming months and future years.“ Wer sich mit Virtual und Mixed-Reality noch nicht auskennt, findet in Unternehmen wie BrandLab einen hilfreichen Partner. „Trade shows are being cancelled on masse and showrooms have shut all over the world – our solution means you can continue to do business with virtual reality buying appointments“, schreibt die Berliner Agentur BrandLab. Und der BoF McKinsey & Company Report ‚The State of Fashion 2020 – Corona Virus Update’ kommentiert: „Almost overnight, the global fashion industry’s reliance on digital channels has accelerated faster than anyone could have anticipated prior to the crisis.“ Aber sind digitale Lösungen nur eine temporäre oder langfristige Lösung für Messe- und Showroom-Events? 

THE REAL DEAL

Vielleicht sind sie beides! Wer sich jetzt mit neuen Formaten – offline und online – kurzfristig neu aufstellen kann, bleibt in Kontakt mit seiner Zielgruppe, bleibt visibel. Er beweist, dass er nicht nur reagieren, sondern viel wichtiger: sich adaptieren kann. 
Es steht völlig außer Frage, dass diese Branche den direkten Kontakt und Austausch braucht. Wir leben schließlich von Socializing, nein, wir lieben das Socializing. Daher sind Veranstalter nun herausgefordert, sich neu zu erfinden. Sicher stecken wir aktuell gerade erst am Anfang dieser Krise. Wohin sie uns noch führt, das ist ungewiss. Aber: So wie es bisher war, kann, sollte und wird es nicht mehr sein.