Dieser Artikel erschien in J’N’C Ausgabe 2-2020
Eine komplette Branche im Burn-Out. Wertschöpfungsketten, die Saisontaktung, selbst der Stellenwert der Mode werden durch COVID-19 in Frage gestellt. Beschleunigt der kollektive Stillstand Konsumverzicht und Nachhaltigkeit oder weckt es das Gegenteil – einen extremen Nachholbedarf? Der Versuch einer Sortierung.
Die Welt vor Corona/Die Welt nach Corona. Wir befinden uns genau in diesem Schrägstrich, einer Zeitenwende, von der absolut niemand weiß, wie lang sie eigentlich anhält. Geschweige davon, was danach kommt. Die globale Gleichzeitigkeit, das kollektive Erleben und die allumfassenden Ausmaße der COVID-19 Pandemie sind beispiellos – und rauben unserer Branche im ersten Moment die Substanz. „Wen bitte interessieren denn aktuell noch Klamotten?“ Das fragte nicht etwa der gesamte Freundeskreis, das fragten sich auch Professionals wie Modehändler, Messemacher, Brandinhaber im anfänglichen Schockzustand. Erst hieß es Ruhe zu bewahren, wachsam zu bleiben und füreinander zu sorgen. Nach der ersten Panik folgten Maßnahmen: erst Zoom-Konferenzen, lokale Lieferdienste, dann Rettungsschirme. Die ohnehin angespannte Partnerschaft zwischen Industrie und Handel stand quasi über Nacht auf einem existenziellen Prüfstand – Ausgang offen. Lieferungen und Lohnkosten wurden zur Charakterfrage. Unternehmen wie Adidas und Deichmann verzichteten auf Mietzahlungen, CEOs wie Kering’s François-Henri Pinault und Puma-Chef Bjørn Gulden auf eigene Gehälter. Denim-Brands wie Levi’s sammelten Spenden, Sneakerlabels wie Nat2 oder New Balance sattelten kurzerhand um und fertigten Masken. Plötzlich war nichts mehr wie es vorher war. Und über all dem die unausweichliche Frage: Wollen wir das überhaupt noch, das ‚vorher’? Auch wenn langsam durch Ladenöffnungen und Lockerung von Kontaktsperren ein Funken Hoffnung entsteht, die größten Herausforderungen liegen noch vor uns. Auf die Zwangs-Entschleunigung folgt unausweichlich eine Entschlackung. Und dann erst eine Zeit danach.
DIE SAISON
Geschlossene Produktionsstätten, gestörte Lieferketten und stornierte Aufträge der Industrie stehen der Branchenkrankheit Warenüberschuss und einem unermesslichen Konsumstau im Handel gegenüber. Was das für Frühjahr/Sommer 2021 bedeutet, liegt auf der Hand. Die Warenlager sind voll – auf beiden Seiten. So wie in der Self-Isolation Wohnungen ausgemistet, müssen neue Kollektionen kurzerhand zusammengestampft werden. Das erfordert eine Fokussierung auf Bestseller. Den Markt jetzt blind mit Produkten zu überhäufen, scheint so 2019. Brands entschieden stattdessen, große Teile der aktuellen Sommer-Kollektionen in die Saison Frühling/Sommer 2021 zu übernehmen. Neuentwicklungen werden gebremst, Linien werden bis aufs Nötigste geschrumpft, auf Vorhandenes wird aufgebaut. Geschlossene Fabriken in China und Italien nehmen erst jetzt langsam wieder den Betrieb auf. Wie es aussieht, werden die Waren später ausgeliefert. Internationale Messen sind um Monate verschoben. Eine neue Saisontaktung steht an – von der Order bis zur Auslieferung. Die sich immer wieder selbst überholende Modebranche hat jetzt die einmalige Chance, sich neu aufzustellen. Rabattierte Sommerkleider neben frisch eingetroffenen Daunenjacken bei 30 Grad Außentemperatur wirken falscher denn je. Eine Order im Juli? Geradezu unvorstellbar. Eine Herausforderung in Sachen Impulskontrolle wird sein, die aktuelle Sommerware nicht zu verramschen und eine gemeinsame Strategie von Produzenten, Marken und dem Handel für den Re-Start zu finden. Seite an Seite.
DER KONSUM
Selbst die naheliegende Prognose, dass der E-Commerce mit Mode von dem Lockdown des stationären Handels profitieren würde, hat sich in den letzten Wochen nicht bestätigt. Die Corona-Krise bescherte selbst Big Playern wie Zalando hohe Verluste. Im ersten Quartal dieses Jahres rutschte Zalando beim bereinigten Betriebsergebnis tief in die roten Zahlen und geht von einem Minus zwischen 90 und 110 Millionen Euro aus. „Es ist keineswegs so, dass die Leute jetzt zuhause sitzen und online Kleidung shoppen. Im Gegenteil: Die Zahlen zeigen, dass die Prioritäten der Menschen sich dramatisch verschieben, wenn sie in ihren Wohnungen festsitzen“, sagt Trendanalyst Carl Tillessen vom Deutschen Mode-Institut. Bei Mode gehe es eben vor allem darum, wie man aussieht, wenn man draußen unterwegs ist, und nicht darum, wie man aussieht, wenn man allein zuhause ist. „So gibt es in der Modebranche, abgesehen von ein paar Herstellern von Home- und Yoga-Wear, in dieser Krise eigentlich nur Verlierer und keine Gewinner“, sagt Tillessen. Hoffnung macht allein, dass Online auch in der Extremsituation kein Ersatz für Offline sein konnte, dass man Stoffe fühlen, Hosen anprobieren und die ganz individuelle Beratung von Angesicht zu Angesicht erleben möchte. Der allgegenwärtige Satz „Wir sind für euch da!“ sollte vom Handel auch in Zukunft praktiziert werden, um die Solidarität der Verbraucher zu erhalten. Von Schaufenstershopping auf Abstand über Insta-Stories und Lieferung per Fahrradkurier – Corona hat bewiesen, wie kreativ der kleine Händler an der Ecke mit dem Schrecken umgehen konnte. Improvisationsgeschick und Kreativität werden auch 2021 zum höchsten Gut.
DAS DIGITALE
Die Welt im Homeoffice. Inspiration für den Designprozess wurde im Netz statt auf Reisen gesucht, virtuelle Meetings haben Entscheider weltweit näher rücken lassen und am Ende machten alle die Erfahrung, dass es überraschenderweise doch irgendwie funktioniert. Warum nicht früher schon? Das digitale Lösungen auch in Zukunft immer mehr Raum einnehmen, ist eins der Learnings aus der Krise. Kollektionsübergaben mit Anproben und der Haptik von Stoffmustern werden digitale Meetings auch in Zukunft nicht komplett ersetzen können, aber eine Alternative darstellen, Reisekosten zu drosseln und schneller auf aktuelle Modethemen zu reagieren. „Wir machen derzeit täglich die Erfahrung, dass Dinge, für die wir bisher immer glaubten, vor Ort sein zu müssen, sich notfalls auch aus der Entfernung erledigen lassen – Büroarbeit, Meetings, Präsentationen, Lebensmitteleinkäufe, Schulunterricht, Studium, gemeinsames Kaffeetrinken, Parties, Kleidungskäufe, individuelle Typberatung, aber auch Modenschauen, Ordertermine und sogar Modemessen, Kongresse und Fashion Weeks. In all diesen Bereichen wurden Präzedenzfälle geschaffen, und nichts davon wird sich vollständig wieder zurückdrehen lassen“, sagt Carl Tillessen. Warum auch? Jetzt, wo wir sehen, wie gut Improvisation funktioniert. Wie schnell man sich in neue Rollen einfinden kann und wie Technik Prozesse auch erleichtern kann. Und dass Imperfektion nicht mit Unprofessionalität gleichzusetzen ist, sondern durchaus charmant sein kann.
DER ZEITGEIST
Was für eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit! Die Renaissance von stundenlangen Telefonaten, die vielerorts ausverkauften Puzzle und Gesellschaftsspiele, die Rekord-Einschaltquoten der Tagesschau und improvisierten Autokinos bringt eine nostalgische Note in eine privilegierte Mittelschicht. Millennials weltweit entdecken Backen, Kochen, Handwerken und Gärtnern für sich. Und all das gibt mehr Sinn und Halt als eine neue Markenjeans. Li Edelkoort sprach von Corona als einer ’Blank Page‘ für die Menschheit, einem dringend erforderlichen Neuanfang, einer Quarantäne des Konsums, in der wir lernen werden, wie wir nur mit einem einfachen Kleid glücklich sein können, indem wir alte Lieblingsstücke wiederentdecken, die wir besitzen, ein vergessenes Buch lesen. Und wurde dafür als zu biblisch und vermessen kritisiert. Geht also alles einfach so weiter wie gehabt? Nein, sagt das auch das Deutsche Zukunftsinstitut. „Corona bringt einen weitläufigen Wandel, die Krise initiiert einen tiefgreifenden Prozess der Erneuerung: Die 2020er Jahre werden zum Jahrzehnt der Resilienz“, heißt es in deren White Paper. Nostalgische Kindheitserinnerungen, Cocooning und der Eskapismus in die Natur sind begleitende Zeitgeist- und Mode-Themen, die durch Corona noch weiter vertieft werden dürften. Auch Konsumbewegungen wie Preloved Fashion bekommen durch die Pandemie Auftrieb. Im Detail sagte Edelkoort schon früh lokalen Anbietern und Aktivitäten einen Aufschwung voraus, Bauernmärkten und Straßenveranstaltungen, Gesangswettbewerben und einer sehr dominanten DIY-Ästhetik. DIY nicht als Zeitvertreib während der Quarantäne, sondern ein Gestaltungselement für Kollektionen.
DIE MODE
Aber wie wird die Mode im Frühjahr 2021? Nachhaltig und unkompliziert sollte sie sein vor allem zwei Dinge verströmen: Leichtigkeit und Optimismus. Allzu wilde Eskapaden und stilistische Sprünge sind nicht zu erwarten. Stattdessen bauen die meisten Brands auf eine authentische, nachhaltige und damit sinnstiftende Materialentwicklung. Auf Essentials voller Tradition, Zeitlosigkeit und Bestand. Eine stille Neutralität in den Farben und Mustern wird wichtig werden. Ein Beispiel: Bei Closed ist die nachhaltigste Antwort in diesem Zusammenhang ungewaschener Ecru-Denim als Ersatz zu weißer Denim, der immer gebleicht wurde. Ein kompletter Head-to-Toe Ecru-Look wirkt extrem cool und gleichzeitig sehr natürlich. Dennoch werden sich die Menschen in absehbarer Zeit wieder schmücken wollen, Post-Corona-Partys feiern und auf Insta frisch Geshopptes präsentieren. Besonders expressive Looks als Rebellion gegen die drohende Rezession sind neben der stilistischen Beruhigung vorprogrammiert. „Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, wann die Krise beendet sein wird und wann die Menschen wieder wie vorher Kleidung kaufen werden. Was wir aber bereits jetzt mit Sicherheit sagen können, ist, dass dies – wenn es einmal soweit sein wird – sehr schnell gehen wird“, sagt Carl Tillessen. Studien zum Verhalten von Menschen in Krisensituationen – zum Beispiel beim Ausbruch von SARS im Jahr 2003 – zeigen, dass der Konsum einen V-förmigen Verlauf nimmt. Das heißt: Durch die mit dem Auftreten der Krise verbundene Verunsicherung stürzt der Konsum zunächst steil ab. „Sobald die Krise überwunden scheint, steigt er aber ebenso steil wieder an – meist sogar auf ein höheres Niveau als vor der Krise, denn diese Phase ist geprägt von einem enormen Nachholbedarf“, sagt Tillessen. Den nennt man auch ‚revenge buying’.
DIE NACHHALTIGKEIT
Vor Corona bewegte sich die Industrie in Richtung einer nachhaltig ausgerichteten, nachvollziehbaren und ehrlichen Produktion. Ist die Krise mit ihrem Ruhemodus also ein Brandbeschleuniger für Sustainability? Ja und nein. Sicher werden sich Verbraucher verstärkt mit Konsumverzicht auseinandersetzen (freiwillig oder nicht) oder gezielt nachhaltige Brands supporten. Gleichzeitig werden die Bestrebungen der Branche durch eine drohende Rezession konterkariert. Denn die teureren Jeans aus Bio-Baumwolle kann sich in Zukunft vielleicht selbst ein und idealistischer Kunde schlichtweg nicht mehr leisten, die von Primark aber schon. Nachhaltigkeit muss dennoch das alles bestimmende Thema der Denim-Branche bleiben und Schlagworte wie Transparenz, fairer Handel und natürlich Sustainability vom nice-to-have zum must-have werden. Der VK-Preis darf allerdings nur geringfügig im Vergleich zum herkömmlichen Produkt steigen. Und die komplexen Inhalte müssen dem Kunden nähergebracht werden. Hin zu weniger, qualitativ hochwertigeren Produkten, komplett abbaubarer Mode und dringender noch: neuen Basics! Denn eines der nachhaltigsten Dinge ist es, schöne Kleidung herzustellen, die lange hält.
DAS DANACH
Die gute Nachricht: Es wird eine Zeit nach Corona geben. Die Schlechte: Keiner, wirklich niemand, weiß, wie sie aussieht. Auch ein Trendanalyst wie Carl Tillessen sieht die Zukunft eher pragmatisch: „Nach der Krise, so schreiben einige, würden die Menschen achtsamer und weniger materialistisch sein. Andere behaupten, die Menschen würden nachhaltiger oder sogar fairer einkaufen oder wären dem lokalen, unabhängigen stationären Einzelhandel wieder treu. Und Fashion wäre nicht mehr fast, sondern würde wieder slow… All diese Prognosen sind ebenso sympathisch wie verantwortungslos, denn sie beruhen leider auf nichts als Wunschdenken. Corona ist keine gute Fee, sondern ein extrem aggressiver Virus. Und der erfüllt keine Wünsche, sondern durchkreuzt unsere beruflichen und privaten Pläne.“ Die Weichenstellungen der nächsten Monate werden die kommenden Jahre nachhaltig prägen. Nach der ersten Phase der Zerstörung folgt laut dem Deutschen Zukunftsinstituts eine Phase der Möglichkeiten, von der Kreativität, Identität und Geschwindigkeit jedes Einzelnen ein Wandel abhängt. Now or never! Und der Prozess endet schließlich in einer Phase der Innovation, Adaption und neuen Modellen für Gesellschaft und Wirtschaft – im allerbesten Fall. Alternativ droht ein Rückschritt in einen alten Wettbewerb, und der dürfte dann härter sein als je zuvor. AC oder BC? Man darf sich ja wohl noch was wünschen.