Business as (un)usual? – Wie eine Pandemie Veränderung forciert

Pandemie
Seidensticker stellte seine Produktion kurzfristig auf die Herstellung von Mundschutzmasken um.Foto: Seidensticker

Dieser Artikel erschien in J’N’C Ausgabe 2-2020.

Endzeitstimmung oder Neuanfang? Wie sieht die Welt nach der Coronakrise aus? Jegliche Zukunftsszenarien sind zum derzeitigen Zeitpunkt sehr spekulativ, weil gar niemand absehen kann, was das Virus wirklich mit uns macht – außer unsere Systeme und Strukturen von Grund auf zu hinterfragen.

Die Welt befindet sich in einer Krise. Genauer gesagt, in einer Identitätskrise. Denn plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Scheinbar von heute auf morgen stehen wir vor neuen, ungeahnten Problemen – und es scheint, als könnten wir alles nur passiv von unseren eigenen vier Wänden aus beobachten. Ganze Branchenzweige sind lahmgelegt, Unternehmen bangen um ihre Existenz und Kurzarbeit wird als Rettungsmaßnahme für Arbeitsstellen eingesetzt. Das Coronavirus hat sich binnen Wochen von einem globalen zu einem uns betreffenden, regionalen Problem entwickelt. Und dennoch kamen jegliche Maßnahmen zu spät; frühe Warnsignale wurden missachtet. Wie gravierend die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie sind, lässt sich stündlich nachverfolgen. Denn die Medien überschlagen sich mit Eilmeldungen, auf den Social Media Kanälen appellieren die Menschen an ihre Solidarität und auch private Schicksale bleiben nicht aus, wodurch das Virus zu einer realen Bedrohung wird.
Wie lange wir in dieser Ausnahmesituation noch ausharren müssen, das kann keiner sagen. Fest steht jedoch, dass die Corona-Krise keine temporäre ist. Wieso diese ungewöhnlichen Zeiten nun auch ungewöhnliche Maßnahmen fordern und wie die Welt sich danach verändert.

DISTANZ SCHAFFT NÄHE

Der Einzelhandel macht dicht. Dreiviertel der Läden sind wegen der Corona-Pandemie weltweit geschlossen. Pro Tag gehen allein in Deutschland rund 1,15 Milliarden Euro Umsatz verloren. In einer Umfrage der Team Retail Excellence von März 2020 gehen über 90 Prozent der Befragten von einer schweren Krise aus, die fast die Hälfte der Teilnehmer als existenzbedrohend einstuft. Unternehmen müssen auf Überlebensmodus umschalten, die Weltwirtschaft ist in einer Abwärtsspirale und droht an die Krise von 2008 zu heranzukommen. „So schnell wie noch nie und mit so viel Geld wie noch nie hat die Politik Maßnahmen ergriffen“, teilte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Telefonbotschaft mit, doch die Angst vor der Insolvenz bleibt bei vielen bestehen. „Wir mobilisieren, was wir können, um unserem Land in dieser unsicheren Zeit Sicherheit zu geben“, versichert sie zuversichtlich. Und dennoch: Das Chaos ist unvermeidlich. Marken, Handelspartner und Lieferanten versuchen, die Kontrolle über das Unkontrollierbare zu behalten. „Noch geben uns die täglichen Zahlen der Neuinfektionen leider keinen Grund, nachzulassen oder die Regeln zu lockern“, sagte Merkel schlussendlich und machte damit deutlich: Die Welt steht erst mal weiterhin still.

Business as Unusual
J'N'C 2-2020

Deutschland, Europa, die ganze Welt geht auf ‚social distance’, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Doch was eigentlich Social Distance genannt wird, sollte in Physical Distance umgetauft werden. Auf einmal sind die Menschen sich näher als je zuvor. Eine E-Mail-Welle der symbolisierten Partnerschaft füllt die privaten und beruflichen Posteingänge, Telefonate enden nicht länger in der Sackgasse des Anrufbeantworters und Videokonferenzen vernetzen nicht nur ihre Mitarbeiter auf einmal mehr, als es in vielen Betrieben bisher im Büro der Fall war, sondern holen auch diejenigen in die technologische Gegenwart, die vorher nicht einmal etwas von ihrer integrierten Webcam wussten. Plötzlich sind alle erreichbar. Plötzlich wird aus einem Ich ein Wir. Oder?

SOFORTHILFE vs SELBSTHILFE

Denn was wir online predigen, muss sich in der Realität erst noch beweisen. Halten wir wirklich so zusammen, wie wir es uns jetzt wünschen? Kommen die Hilfen rechtzeitig? Wie bekomme ich Hilfe? Und was zählt jetzt wirklich? Not ist bekanntlich eine Tugend. Der Kreativitätsboost und das Tempo, das jetzt hingelegt wird, auch von Unternehmen, die es sich grundsätzlich mit dem Fortschrittsgedanken schwertun, grenzen an einem Wunder. Doch was lernen die meisten jetzt aus dieser Situation? Solidarität oder doch Egoismus?
Große Unternehmen wechseln temporär ihr Metier: Masken und Schutzkleidung statt Trends werden jetzt vielerorts produziert, um vor allem medizinischen Einrichtungen zu helfen. Der Luxus Online-Retailer Net-A-Porter hat seine Vertriebszentren in UK und den USA vorübergehend geschlossen, doch die Lieferfahrzeuge sind trotzdem unterwegs – für „Pflegepakete für ältere Menschen, um sicherzustellen, dass wichtige Lebensmittel und medizinische Versorgung die am stärksten gefährdeten Menschen erreichen“. 

Andere Unternehmen müssen sich hingegen zusätzlich Vorwürfen stellen, Mietzahlungen zu verweigern und somit anderen Parteien zu schaden. Darunter zählt auch der deutsche Schuhkonzern Deichmann: „Wir selbst sind in der Situation, dass wir in Deutschland rund 1.500 Filialen schließen mussten, die nun keinerlei Umsatz mehr erwirtschaften. Zwar schafft das Kurzarbeitergeld eine Entlastung bei den Personalkosten, dennoch laufen die Kosten für Logistik, Teile der Verwaltung, den umfangreichen Wareneinkauf und die Mieten weiter. […] Wenn diese Phase länger andauert, wird das auch für wirtschaftlich gesunde Unternehmen existenzbedrohend“, so die Erklärung des Unternehmens. Auch der Sportartikelhersteller Adidas muss sich mit einem Shitstorm wegen Mietstops im April bei rund 26 Objekten auseinandersetzen, ebenso wie Puma und H&M. Aber wird hier vielleicht nicht das ganze Bild gesehen?
„Millionen von Textilarbeitern in Bangladesch und darüber hinaus droht die Arbeitslosigkeit“, kündigt das Center for Global Workers’ Rights in ihrem Research Report an. „Das sind Menschen, die bereits vor ihrer Kündigung, absurd niedrige Gehälter erhielten und für die Sparen somit nie eine Option war.“ Kann ein H&M also vielleicht im immer noch wohlhabenden Westen Mieten aussitzen, damit die indischen Produktionsstätten und ihre Mitarbeiter für bereits hergestellte Ware auch bezahlt werden können? Oder reicht der Wir-Gedanke nur bis zum nächsten Ozean? 

DIGITALE ABSOLUTION ODER GLOKALISIERUNG?

Natürlich schrumpft die Welt vom Homeoffice aus schneller und natürlich kann man vor allem seinen ‚nächsten’ Mitmenschen jetzt zeitnah helfen. Zum Beispiel mit Gutscheinaktionen. Sie sollen vor allem kleinen, lokalen Betrieben das Überleben sichern. Wobei sie es sind, wenn sie es richtig machen, die eine Renaissance erleben werden: Viele bieten einen persönlichen Doorstep-Delivery Service an – ganz ohne aufwendige E-Commerce-Strategie – und nehmen Bestellungen ganz einfach via E-Mail auf und hängen die Ware im hauseigenen Jutebeutel an die Haustür. So einfach? Scheinbar ja. Ohnehin könnten Online-Einkäufe die Umsätze jetzt bestmöglich oben halten, während ebenso wieder auf Dienstleistungen zurückgegriffen werden soll, die natürlich dann auch monetär entlohnt werden müssen. Aber über allem schwebt ein Vielleicht. Ein ja, vielleicht. Oder ein vielleicht aber auch nicht

Das Zukunftsinstitut hat in seinem White Paper ‚Der Corona Effekt’ insgesamt vier Szenerien aufgestellt. Eines davon beschreibt die Adaption, in der die Weltgesellschaft aus der Krise lernt und „Nischen in den Mainstream katapultiert“ werden. „Das Coronavirus hat eine Selbstreinigung der Märkte angestoßen“, heißt es in der Prognose. „So ist nicht nur eine sinnvolle Balance zwischen online und offline entstanden, sondern vor allem ein kluger Umgang mit globalisierten Handelsketten, ein Gleichgewicht von lokalem und globalem Handel und eine Blüte der Direct-Trade-Plattformen.“ Eine Verknüpfung der lokalen Ebene mit globalen Organisationen, um es kurz zufassen. 

Die Pandemie könnte demnach aus unserem Alarmismus, Konstruktivismus entstehen lassen. Einen gemeinsamen Spirit, der nach Lösungen strebt und uns produktiv(er) macht. Doch dafür müssen wir uns zunächst von alten Mustern trennen und Überflüssiges jetzt auch als solches identifizieren. Schließlich bedeutet Entwicklung auch Loslassen. Sind Sie bereit dafür?