Die Express-Digitalisierung zur COVID-19 Krise

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Ein virtueller Rundgang durch den Showroom der Berliner Agentur Silk Relations.Foto: Silk Relations

Digital-First – für eine überraschend hohe Vielzahl an Unternehmen ist das eine Mentalität, mit der sie sich bislang nicht identifizieren konnte und wollte. Doch die Abhängigkeit der Modebranche von digitalen Kanälen zeigt sich zur Krise deutlicher denn je.
Die Web-Welle erreichte durch weltweite Lockdowns und Social Distancing auch die hintersten Ecken, in denen sich zahlreiche Unternehmen bislang vor digitaler Weiterentwicklung versteckt hielten. Doch binnen kürzester Zeit wurde das Netz zum alternativen Meeting Point für geschäftliche Angelegenheiten – selbst für Skeptiker. Wer Schnelligkeit und Flexibilität bewies, verschaffte sich und seinem Unternehmen mehr Zeit, wenn nicht sogar einen langfristigen Vorsprung. Wie schnell eine Kostenumverteilung und das Vertrautmachen mit dieser ‚codierten’ Welt vorangetrieben werden können, beweisen derzeit viele PR-Agenturen. Diverse Lösungen für digitale Showrooms sprießen gegenwärtig nach und nach aus dem Boden und befruchten immer mehr Ideen. Auch Fashion Shows wechseln, wenn auch nur temporär, von offline zu online. Was bislang für unmöglich gehalten wurde, ist plötzlich möglich – und das in Rekordzeit. 

Physisch + digital – Let’s get phygital 

Dabei sind digitale Alternativen zu Showrooms und Messen sind nichts Neues: Viele internationale Firmen, darunter auch Joor, die bereits seit letztem Jahr mit der Premium Group zusammenarbeiten, spezialisieren sich seit Jahren auf digitale Lösungen. Sie standen jedoch bisher, man muss es leider zugeben, von der Mehrheit unbeachtet am Spielfeldrand. Zu ambitioniert? Zu teuer? Oder schlichtweg nicht von Belangen? Vor Corona lautete die Antwort auf jede Einzelne dieser Fragen ganz klar ja. Doch aktuell liebäugeln viele Unternehmen mit dem Gedanken, sich digital neu und damit besser als je zuvor aufzustellen. Eine Investition, die sich bezahlt machen könnte. Immerhin: Laut Business of Fashion haben durch die Krise 13 Prozent der europäischen Verbraucher zum ersten Mal in Online-Shops gestöbert. Auch Marken sollten daher die Gelegenheit ergreifen, digitale Vorreiter zu werden.

Auch wenn dieser Schritt nach wie vor nicht leicht ist. Selbst große Instanzen, tun sich schwer mit der Umstrukturierung. Manchmal müssen aber die Kleinen unter ihnen mit gutem Beispiel voranschreiten. Wie beispielsweise die Helsinki Fashion Week, die Ende Juli ausschließlich digital stattfinden wird. Dabei belassen die Veranstalter es nicht bei reinen Livestreams der Kollektionen, sondern ermöglichen eine Art Virtual Reality, für die Designer ihre Entwürfe auch digital umsetzen und die Besucher einen Avatar zugewiesen bekommen, der bei den Modenschauen sitzt, Events besuchen und ja, auch einkaufen kann. Dass letzteres digital sehr gut machbar ist, ließ sich bereits erfolgreich in China beobachten. Über Social Media Plattformen wie WeChat und Yizhibo gab es, laut Business of Fashion, bereits zahlreiche Livestreaming-Sessions, die verlassene Luxusstores zu virtuellen Einkaufsoasen verwandelten. Gehostet wurden diese Online-Shopping-Streams von den Mitarbeitern der Stores. „Diese Art Geschäfte zu machen, ist vollkommen neu für uns“, erzählt Giovanni Pungetti, CEO Greater China für Diesel, Marni und Maison Margiela gegenüber dem BOF. „Aber wir haben damit jede Ecke Chinas erreichen und damit Geschäfte machen können. Daher betone ich es gegenüber unseren Aktionären in Italien immer wieder: Alles, was wir in diesem Moment lernen, wird uns dabei helfen zu wachsen und uns sogar zu verbessern, sobald sich die Dinge wieder normalisieren.“

Digitale Showrooms – Deutschland geht live

Wann wieder Normalität einkehrt, zumindest so wie wir sie in Erinnerung haben, wissen wir derzeit noch nicht. Aber auch hierzulande stellen sich die Agenturen und Marken entsprechend neu auf und vernetzen sich digital mit ihrer Community. Zahlreiche PR-Agenturen initiierten nach und nach digitale Kollektionspräsentationen über ihre eigens dafür eingerichteten Instagram-Accounts – für press only. Ob Freisteller-Collagen, Lookbook-Bilder, IGTV-Videos mit Kollektionssbeschreibungen oder Livestreams mit Agentur-Mitarbeitern – Instagram fungiert temporär als Online-Archiv des saisonalen Portfolios. Die Agentur Karla Otto startete mit diesem Konzept bereits im April, während die Münchener Agentur Think Inc. bis zum Ende der Woche seine digitalen Pressdays via Instagram abhält.

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Zukunftsvision?

Andere wiederum, wie beispielsweise We Love PR, laden zu kleinen Gruppen über Zoom ein und halten ihre Präsentationen über den Video-Call und via Bildschirmübertragung. Die Berliner Agentur Silk Relations hingegen, hat den Gedanken des digitalen Showrooms noch weitergedacht und in Zusammenarbeit mit Studio MRVX innerhalb von nur zwei Wochen einen virtuellen Showroom aufgestellt, zu dem 30 Journalisten eingeladen wurden. „Wir mussten schnell nach einer digitalen Lösung für die Präsentation unserer Kunden suchen“, erklärt Kerstin Geffert, Co-Founder und Managing Partner von Silk Relations. „Wir wollten der Presse etwas anderes bieten als die üblichen Instagram Stories und Feeds. Uns schwebte eine Art Verknüpfung von Info- und Entertainment im virtuellen Raum vor.“ Als Blaupause diente hierbei der echte Showroom in Berlin – alles wurde in 3D nachgebaut. Für die Sehnsucht nach ‚echten’ Pressdays gab es für die Gäste sogar Finger Food direkt ins Home Office geliefert. „Der persönliche Kontakt zu unserem Presse-Netzwerk stand auch bei der digitalen Umsetzung im Vordergrund“, ergänzt Silke Bolms, Co-Founder und Managing Partner von Silk Relations. „Durch unsere Live Videokonferenzen schaffen wir trotz Social Distancing eine persönliche Note, in der wir über News und Trends unserer Kunden plaudern können“. 

Das Kopenhagener Technologieunternehmen Vocast hat ebenfalls eine digitale Showroom-Software entwickelt, die speziell auf Mode- und Designmarken zugeschnitten ist, um sie bei der Betreuung von Presse, Kunden, Influencern und anderen einflussreichen Institutionen mit Bildern und Nachrichten zu unterstützen. Auch die digitale B2B Vertriebs-Plattform BrandLab Fashion hat eine Technologie entwickelt, auf deren Basis Showrooms für Brands innerhalb einer virtuellen Welt kreiert werden können. Dort können bis zu fünf Personen gleichzeitig per Video-Kommunikation gemeinsam durch den Showroom laufen. Darüber hinaus bieten sie integrierte Audio-, sowie auch Video-Kommunikation in Verbindung mit zeitgleich stattfindenden Order-Möglichkeiten an – eine sogenannte ‚Fully immersive virtual Reality Technology’. Wtlk Fashion bietet zwar keinen nachgebauten 3D-Showroom, dafür aber den ersten Chat-basierten E-Marketplace, der Designer, Personal Stylisten, Verkäufer und Medien auf einer Plattform vereinigen soll, um so Order und andere geschäftliche Beziehungen zu ermöglichen.

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Beispielversion eines von BrandLab erstellten virtuellen Showrooms. Foto: Screenshot BrandLab

Ergänzen statt ersetzen

Selbst wenn alles wieder seinen gewohnten  Lauf nehmen wird, Messen wieder uneingeschränkt stattfinden können, Geschäfte wie gewohnt öffnen und auch Showrooms mit Order- und Press-Days-Phasen wieder möglich sein werden; Unternehmen müssen jetzt ihre Denkweise gegenüber digitalen Möglichkeiten hinterfragen, sie entsprechend anpassen und sich (auch) wie digitale Player verhalten. Hier geht es nicht um die reine Gegenüberstellung von Vorteil versus Nachteil von Online-Offline-Kanälen. Vielmehr geht es hier um die längst überfällige Ergänzung beider Welten. Digitalisierungs-Pläne gehören priorisiert – auch, wenn sie sich stellenweise als weniger rentabel im Vergleich zu physischen Verkaufsflächen erweisen. Noch geht es hier schließlich um digitales Wachstum, das in ein ausgewogenes, physisches Modell integriert wird.
Unser Offline-Dasein wird dadurch nicht ersetzt oder gar verschwinden. Ganz im Gegenteil: Diese Art des People’s Business bleibt uns erhalten und erfährt sogar nach der Krise eine Renaissance, denn seien wir mal ehrlich: Die virtuelle Welt bietet derzeit ungeahnte Möglichkeiten, aber nichts geht über ein face-to-face Gespräch vor Ort, an dem man alles anfassen und hautnah erleben kann.

Auch die Stuttgarter Retail Identity Agentur Dfrost glaubt an die Koexistenz und ruft dazu auf, neue Impulse und Anreize zu generieren. „Genau diese Kombination von Online und Offline macht das physische Markenerlebnis sinnvoll und verbessert es nachhaltig“, heißt es in ihrem just veröffentlichtem 4-Punkte-Plan für den stationären Handel ‚The New Normal’. Ihr Managing Director Christoph Stelzer fasst es eigentlich am besten zusammen: „COVID-19 bedeutet nicht das Ende des stationären Einzelhandels, sondern den Beginn von etwas Neuem … einer neuen Chance. Lassen Sie uns gemeinsam die Angst vor dem Unbekannten und dem Neuen beseitigen. Lassen Sie uns gemeinsam einen aktiven und damit erfolgreichen Ansatz verfolgen. Lassen Sie es uns bewusst und aktiv umsetzen. Denn jeder Neuanfang, bietet erstaunliche Gelegenheiten für etwas Großartiges.“