Dieser Artikel erschien in J’N’C News 2/20.
Die Hand schwebt zögernd über dem großen Reset-Button. So scheint es zumindest derzeit für viele Systeme zu gelten, die sich weltweit als überholt oder instabil erweisen – auch in der Mode, respektive für den Fashion Kalender. Denn: Sind die festgelegten Saisons noch zeitgemäß?
Was vielmehr wie eine rhetorische Frage klingt, ist in Wahrheit eine seit Jahren geführte Debatte, die erstmalig relevante Ergebnisse erzielt – und zwar von ganz oben. Und dennoch stellt sich die Frage, ob sich ein universeller Fashion Kalender zeitnah um- und durchsetzen lässt oder, ob wir in Zeiten der Krise, von romantischen Hoffnungs-Szenarien verblendet werden?
Vor Jahren schon, hat sich der Fashion Kalender von jeglicher Sinnhaftigkeit verabschiedet. Um zu verstehen, wie absurd die Taktung tatsächlich ist, muss man nur Ende Juli in die Stores gehen und Bademode kaufen. Statt ein breites Angebot von besagter Bademode aufzufinden, werden bereits die ersten Strickwaren und Jacken an vorderster Front präsentiert – bei 30 Grad Celsius Außentemperatur. Aber wo hat unser Mode-Rhythmus eigentlich seinen Ursprung?
Kurz und knapp: in Europa. Das europäische Wetter, mit all seinen Wetter-Saisons, gilt als Benchmark für die Modesaisons. Allerdings zu einer Zeit, wo der Winter noch Schnee brachte, der Frühling noch als Frühling durchging und Sommer und Herbst voneinander getrennte Jahreszeiten waren. Aber Kommerz und Konsum machten eine global agierende Branche über Jahrzehnte blind für das Offensichtliche: Das im 20. Jahrhundert aufgestellte System ist obsolet.
Niemand kauft heutzutage noch ein Kleidungsstück, weil es Sommer oder Winter ist. Auch eine Cruise Collection wirkt in Zeiten von ganzjährigem, globalen Tourismus für Jedermann (prä Corona) mehr als antiquiert und eine Pre-Summer-Kollektion lässt sich, wie bereits oben erwähnt, ebenso schwer einordnen wie die Jahreszeiten selbst. Die Modeindustrie hat sich demnach mehr denn je von der Natürlichkeit der meteorologischen Saisons entfernt. Sie ist nicht länger einer begrenzten Hemisphäre zuzuordnen, sondern eine globale Angelegenheit – mit Menschen, die von fast überall Zugang dazu haben. Die Unberechenbarkeit der Natur hat somit der Starrsinnigkeit der Mode einen Strich durch die Rechnung gezogen. Klima-gesteuerte Kollektionen in Zeiten des Klimawandels sind ebenso fehlplatziert wie Donald Trump in seinem Amt als US-Präsident.
Aktion, Reaktion
Dennoch: Die Mode aus ihrer Façon zu bringen, ist keine leichte Aufgabe. Dafür benötigt man disruptive Protagonisten, die etwas in der Branche bedeuten und bewegen. Protagonisten wie Hedi Slimane. Protagonisten wie Dries van Noten. Protagonisten Alessandro Michele. Doch der mit Abstand disruptivste Protagonist des Geschehens ist hier eine übergeordnete Macht, eine Pandemie.
COVID-19 bestimmt auch nach Monaten den ausgedienten Rhythmus und hat allen gezeigt, dass die Hautevolee sich in ihrem Elfenbeinturm nicht nur verschanzte, sondern sich dort auch sicher wägte. Bis plötzlich, schneller als man verarbeiten kann, hochkarätige Kaufhäuser Insolvenz anmelden, Luxusdesigner eine Notfinanzierung beantragen und kleine bis mittelständische Unternehmen in der Welle der Krise beinahe unbemerkt untergehen.
Die Mode, wie wir sie kannten, gab es plötzlich nicht mehr. Auf einmal stand eine der mächtigsten Industrien vor einer Sackgasse. Doch nach der ersten Phase der Überforderung und vielleicht sogar Panik, setzte die Kreativität ein. Der Mut. Die Rebellion. Das Umdenken. All das, was wir von der Mode kennen und lieben, aber eben doch seit langem vermissen: Der Bruch mit dem gewohnten Establishment.
Fashion Kalender in Eigenregie
Als Ende April, quasi inmitten des ersten Schocks, das französische Luxushaus Saint Laurent ankündigte, die Pariser Modewoche im September zu überspringen und einen neuen, eigenen, unabhängigen Zeitplan für die Kollektions-Präsentationen zu erstellen, schien das Versprochene, das Angestrebte zum ersten Mal etwas zu bedeuten. „Saint Laurent wird sich seinen Kalender zu eigen machen und die Kollektionen nach einem Plan lancieren, der mit einer zeitgemäßen, von Kreativität getriebenen Perspektive konzipiert wurde“, hieß es im offiziellem Statement. Kurz darauf, fand sich ein Kollektiv zusammen, angeführt vom belgischen Designer Dries van Noten, das in einem offenen Brief an die Industrie ebenfalls appellierte: „Dies ist ein Vorschlag für die globale Modeindustrie, das Ergebnis kontinuierlicher Gespräche zwischen einer wachsenden Gruppe unabhängiger Designer, CEOs und Führungskräften des Einzelhandels aus der ganzen Welt, die sich in dieser schwierigen Zeit zusammengefunden haben, um zu überdenken, wie die Modeindustrie funktionieren könnte – und sollte.“ Zu den Unterstützern dieser Petition gehören große und kleine Unternehmen, darunter Tory Burch, Marine Serre, Selfridges, Nordstrom, Lane Crawford und auch der Luxus-Onliner Mytheresa. Abseits blieben jedoch Marken aus der LVMH-Gruppe und auch von der Kering-Gruppe angehörigen Seite blieb es vorerst still. Bis Gucci, der Kering-Gruppe angehörend, Ende Mai verkündete, nur noch zwei Schauen im Jahr zu halten, mit der Begründung Alessandro Micheles: „Ich möchte dann etwas in meine Kollektionen integrieren, wann ich es will.“ Das metaphorische Raunen, das in diesem Moment durch die Branche ging, kann man immer noch hören, denn es schien, als sei das der notwendige Schock-Moment gewesen, um der saisonalen Extravaganz den Gar auszumachen. Und wenn Michele sagt, “Ich glaube daran, dass Kreativität alles lösen kann“, möchte man es ihm glauben.
Alles eine Frage des Timings
Vergessen wir nicht: Neu ist der Anstoß nicht und auch Tommy Hilfiger brach bereits vor drei Jahren mit dem System, als er die ersten See-now-buy-now Schauen veranstaltete, während alle anderen um ihn herum ihre gewohnten Saisonprognosen (voraus)zeigten. Aber die Corona-Konsequenzen fordern von allen jetzt mehr als je zuvor. Vielleicht sollten wir den absehbaren Wandel also nicht nur als längst überfällige Anpassung verstehen, sondern auch als Befreiungsschlag für ausgebrannte Designer, die unrealistischen Deadlines unterjocht sind und sich artistisch ebenso gut wie kommerziell verkaufen müssen – am besten begleitet und inszeniert von einem Dokumentarfilm-Team, die den wirren Zirkus der Modewelt in all seiner ungeschönten Wahrheit festhält. Ohnehin: Ready-to-Wear-Präsentationen, die erst ein halbes Jahr später in den Luxus-Stores hängen, aber nur zwei Wochen später in den vertikalen Ketten herunterdekliniert an die breite Masse gebracht werden, haben keinerlei wirtschaftliche, noch nachhaltige Bewandtnis. Fakt ist, hier steht ein wichtiger Entwicklungsprozess aus, der in dieser Krise seinen Anstoß gefunden hat. Also ja, lassen wir die zittrige Unsicherheit einfach hinter uns und drücken wir selbstbestimmt auf den Button.