Die Zukunft der Messe: Was sagen Marie-Luise Patzelt und Montgomery Juchems?

Seek Berlin
Das Team von Seek rund um Show Director Marie-Luise Patzelt (2. von rechts)Foto: Puria Safary

Visionen und kollaboratives Erfolgsdenken – In der Modebranche gibt es keinen Platz mehr für Beschuldigungen und Vorwürfe. Es geht darum, eine gemeinsame Zukunft zu schaffen und gemeinsam erfolgreich zu sein. Darüber sind sich Seek Show Director Marie-Luise Patzelt und Wunschnaht-Agentur-Inhaber Montgomery ‚Monty‘ Juchems einig. Wir haben die beiden zum Gespräch gebeten, um ihre Einsichten in diese dynamische Messewelt zu teilen und zu erfahren, was es braucht, um eine neue, erfolgreiche Messe-Ära zu gestalten.

Liebe Marie-Luise, wie können Messe, Veranstalter:innen und Mode Agenturen gemeinsam dazu beitragen, Besucher:innen aktiv dazu zu ermutigen, über den eigenen Stand ‚hinauszudenken‘?
Lange Rede, kurzer Sinn: Bevor wir über Innovationen sprechen, müssen wir uns zunächst auf die Grundlagen konzentrieren – und das beginnt mit dem Einladen. Jede Saison führen wir im Anschluss an die Messe Umfragen bei unseren Aussteller:innen und den Einkäufer:innen durch. Die Erkenntnisse aus der letzten Saison waren wirklich erstaunlich: Alle Aussteller:innen haben sich mehr Publikum gewünscht, jedoch wurden weniger als ein Viertel aller Besucher:innen persönlich von den Aussteller:innen zur Seek eingeladen. Hier müssen wir den Aussteller:innen ein Stück weit die Verantwortung zurückgeben. Ich muss jedoch betonen, dass eine Vielzahl der Agenturen, insbesondere Monty von Wunschnaht best case Beispiele sind. Sie nehmen das Einladen und die Terminvereinbarung sehr ernst und sind sich vor allem ihrer Verantwortung gegenüber ihren Marken bewusst.

Lieber Monty, würdest du sagen, dass euch diese Art der Organisation durch den generellen Workflow als Agentur ohnehin leichter fällt?
Agenturen verstehen ihre Rolle als organisatorischer Dienstleister und die Wichtigkeit von Networking-Events und Messen. Je enger man zusammenarbeitet, desto erfolgreicher wird man sein. Das gilt sowohl für unsere Kund:innen als auch für andere Agenturen und Aussteller:innen. Verantwortliche Vertreter:innen sollten versuchen, möglichst viele Kunden für Events in Berlin oder anderswo zu gewinnen. Als Agentur betrachten wir das nicht als Herausforderung, sondern als Chance, die richtigen Menschen zu erreichen und zusammenzubringen. Wir denken strategisch im Sinne unserer Kunden. Gerade für mittlere und kleinere Unternehmen können diese Art von Zusammentreffen entscheidend sein und den Erfolg einer Marke maßgeblich mitentscheiden.

Seek Berlin
Foto: Presse

Was ich sehr interessant finde, ist die historische Entwicklung von Messen. Ihr habt beide vorab erwähnt, dass Messen ein Gemeinschaftsprojekt sind und kein Einzelspiel. Glaubt ihr, dass das Verständnis dafür, wie eine Messe tatsächlich funktioniert, verloren gegangen ist, weil sie zunehmend als Event betrachtet wird? Viele scheinen zu denken, dass es nur um das Veranstalten einer Party geht. Würdet ihr dem zustimmen? Wo seht ihr die Hauptprobleme im Verständnis, was nötig ist, damit eine Messe erfolgreich ist?
Marie-Luise Patzelt: Die Historie spielt eine große Rolle, besonders die Zeit, als alles reibungslos lief. Trotz fast zehn Jahren seit dem Ende dieser Ära hören wir immer noch nostalgische – teils auch vorwurfsvolle und wenig konstruktive – Stimmen. Ich bin schockiert darüber und gleichzeitig frustriert, wie auch viele meiner jungen Kolleg:innen, wie die ältere Generation spricht: „Früher war alles besser“. Es gibt einen extremen Personalmangel und gleichzeitig ist der Job härter geworden. Unverzichtbar sind für die Branche hingegen nach wie vor Events und das physische Zusammenfinden. Heute ist das digitale Meeting obligatorisch – und Fluch und Segen zugleich. „Während der Pandemie ging es ja auch“ scheint das Motto zu sein. Auch über Budgetfreigaben wird ganz anders entschieden. Es gilt, Kosten, die sich nicht direkt auf Umsätze auswirken, können gespart werden. Für Networking müssen wir als Gastgeber:innen die richtigen Momente schaffen – das ist unsere Aufgabe. Die Eventisierung ist in Berlin wichtig. Dafür steht und stand Berlin schon immer.

Was fehlt euch bei den heutigen Messevibes?
Marie-Luise: In Krisenzeiten neigt man dazu, sich zurückzuziehen und seine Schäfchen beisammen zu halten. Man ist vielleicht nicht so offen für Neues und hält lieber an Bewährtem fest. Das führt dazu, dass die Leichtigkeit und Freude, die früher mit der Seek und Berlin verbunden war, ein wenig verloren gegangen sind. Wir haben so einen tollen Job und beschäftigen uns mit schönen Dingen. Ich wünsche mir, dass man diese Freude und vor allem die Wertschätzung wieder mehr spürt und lebt.

Seek Berlin
„Die Eventisierung ist in Berlin wichtig. Dafür steht und stand Berlin schon immer“, sagt Seek Show Director Marie-Luise Patzelt.
Foto: Presse

Monty Juchems: Ich stimme zu. Viele Vertreter:innen behandeln ihre Kund:innen heute nicht mehr so, wie sie es eigentlich sollten. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Messen harte Arbeit sind. Es ist aber unser Job, unser Bestes zu geben. Früher war es sicherlich einfacher, in dieser Branche Geld zu verdienen. Heute muss man sich mehr anstrengen, vielleicht öfter Verkaufszahlen analysieren und in einer schnelllebigen Welt Kontakte pflegen. Es gibt immer noch Leute, die nostalgisch an die großen Partys und riesigen Stände von früher denken, aber in der heutigen Zeit kann man sich solche Ausgaben oft nicht mehr leisten. Das Learing ist: Man muss sich anpassen und bereit sein, die nötige Anstrengung zu investieren.

Wunschnaht
Showroom-Fläche von Mode-Agentur Wunschnaht
Foto: Presse

Spielen wir mal ‚Was wäre wenn‘: Was wäre, wenn es keine Messen mehr gäbe? Was würde das konkret für dich als Agentur bedeuten?
Monty: Das wäre schwierig, da Messeorganisation zu unseren Kernkompetenzen gehört. Für kleinere, inhabergeführte und unabhängige Marken wäre es fast unmöglich, auf den Markt zu kommen, weil die Informationsplattform, die eine Messe nun mal bietet, fehlen würde. Viele unserer Kund:innen sagen, dass sie eine derartige Plattform brauchen, um neue Kontakte zu knüpfen. Jede:r will schließlich irgendwo präsent sein. Natürlich kann man sich über Instagram und andere Kanäle informieren, aber wirklich spannende neue Dinge entdecken? Das funktioniert vor Ort natürlich besser.

Seit Jahren sprechen wir über den Wandel in der Branche, insbesondere bei Messen und Hubs. Aber es scheint, dass wir immer wieder die gleichen Themen wiederholen: Früher war es einfach, heute ist es schwierig. Gibt es aus eurer Sicht Diskussionsthemen, die vermieden werden, weil nicht offen darüber gesprochen wird, was wirklich notwendig wäre, um erfolgreich zu sein?
Monty: Wenn ich ganz offen sein darf, würde ich sagen: Ja, früher war es einfacher, Geld zu verdienen. Heute muss man mehr rechnen und mehr investieren, um das gleiche Ergebnis zu erzielen. Wir investieren viel Zeit, Energie und Geld, um das gleiche Ergebnis wie früher zu erzielen. Viele klammern sich an die Vergangenheit, als man einfach den Laden aufmachte und die Kund:innen von sich aus kamen. Das ist heute nicht mehr so. Bei unseren Kund*innen sehen wir, dass viele inhabergeführte Unternehmen erfolgreich sind, weil diese selbst vor Ort sind und den persönlichen Kontakt zu ihren Kund*innen pflegen können. Diese Stores verdienen gut und haben ein funktionierendes Geschäftsmodell. Was nicht funktioniert, ist zu erwarten, dass man einfach etwas in den Laden hängt, Musik spielt und die Kund:innen automatisch kommen und kaufen. Früher gab es aber auch kein Online-Shopping und kein 100-Tage-Rückgaberecht. Die wirtschaftliche Situation ist sicher schwieriger als früher, aber die Menschen wollen immer noch konsumieren. Der Anspruch ist einfach ein anderer geworden.

Seek Berlin
Foto: Marcus Mainz

Glaubt ihr, dass es in unserer Branche einen Kulturwandel geben muss?
Marie-Luise Patzelt: Es geht um Verantwortung und darum, das Gesamtbild zu sehen. Die Katze beißt sich hier in den Schwanz: Wenn das Management schlecht gelaunt ist, beeinflusst das die Mitarbeiter:innen und die Stimmung überträgt sich auf die Kund:innen. Umgekehrt passiert dasselbe: Unschönes Feedback der Kund:innen wirkt sich auf die Mitarbeiter:innen aus und die schlechte Laune kehrt ins Management zurück. Diesen Kreislauf zu ignorieren und mit dem Finger auf andere zu zeigen ist keine Lösung. Jede:r muss seinen Teil dazu beitragen. Als Veranstalterin einer Networking- und Orderplattform sehe ich mein Team und mich als Gastgeber:innen. Wir müssen sicherstellen, dass für jede:n etwas dabei ist.

Man könnte es fast mit einer privaten Party vergleichen. Ich lade interessante Leute ein, die sich vielleicht kennen oder kennenlernen sollen. Als Gastgeber:in kann ich Leute zusammenbringen und vorstellen, aber ob sie hinterher miteinander reden, liegt nicht in meiner Hand. Die Gäste entscheiden, was sie aus der Party machen. Aber was ist die Lehre daraus für euch?
Monty: Klagen über fehlende Innovationen auf Messen kommen oft von Leuten, die nur kurz da waren. Ein Messebesuch erfordert Zeit und Engagement. Früher stand die Show im Vordergrund, heute geht es mehr um die Produkte, was ich persönlich besser finde. Trotz schmalerer Budgets müssen wir wirtschaftlich denken und effizient arbeiten. Die Branche ist komplexer geworden und viele Händler:innen kämpfen mit Personalmangel. Auf Messen sucht man oft nach Inspiration. Als Agentur geben wir unser Bestes, um einen Mehrwert zu bieten.

Marie-Luise: Früher war die Branche exklusiver, heute ist der Kuchen zwar gleich groß aber breiter verteilt. Wir verlassen uns bei der Akquise und Erstellung des Portfolios auf unser Bauchgefühl und besinnen uns auf unsere Unabhängigkeit. Unsere Stärke ist das Gastgeben. Wenn wir mit einem kleineren, aber loyalen Kern arbeiten, können wir die Seek und die Zukunft Berlins als Modestandort neu aufbauen –aber anders und besser. Weniger Ablenkung und mehr Konzentration auf das Wesentliche.

Ivan Miocevic und ein Teil des Wunschnaht Mode-Agentur Teams auf der Seek
Foto: Presse

Wie wirst du die kommende Seek für dich nutzen, Monty?
Monty: Für uns als Agentur ist die Teilnahme an der kommenden Seek auf jeden Fall ein Gewinn. Es ist eine Plattform, die uns die Möglichkeit gibt, präsent zu sein und die neuen Produkte und Kollektionen aus unserem Markenportfolio zu zeigen. Früher wurden Entscheidungen vielleicht spontan vor Ort getroffen, heute nehmen die meisten Besucher:innen die Informationen mit nach Hause, diskutieren sie im Team und treffen dann ihre Auswahl.

Und du, Marie-Luise? Aus der Sicht der Veranstalterin. Wie wirst du diese Saison nutzen?
Marie-Luise: Als Veranstalterin sehe ich die kommende Saison als Chance für einen positiven ‚Reset‘. Wir sind flexibel genug ein Gleichgewicht zu finden, um stabil in die Zukunft zu gehen. Ohne den Druck von Umsatzzielen oder der Suche nach Investoren wollen wir eine Plattform schaffen, um Networking zu fördern und die richtigen Leute zusammenzubringen. Der Sommer wird für uns eine Zeit des Neubeginns – im positiven Sinne. Wir sind voller Leidenschaft für das, was wir tun, und freuen uns darauf, Menschen zu treffen, willkommen zu heißen und zu inspirieren.

Ich habe den Eindruck, dass ihr selbstbewusst seid, dass ihr wisst, was ihr wollt und wer ihr seid.
Marie-Luise: Das stimmt. Wir haben ein großes Repertoire an Erfahrungen und Expertise, sowohl mit großen als auch mit kleinen Veranstaltungen, in verschiedenen branchenübergreifenden Segmenten. In dieser Hinsicht ist die Seek nach wie vor unersetzlich. Auf Messen kann man Zeit miteinander verbringen und sich austauschen. Auch wenn die Vertreter:innen in erster Linie ihre eigenen Produkte verkaufen wollen, ist die Messe eine Plattform, um neue Kontakte zu knüpfen und Erfahrungen auszutauschen. Dieser Mehrwert muss erkannt und wertgeschätzt werden. ‚Return of Investment‘ muss neu-gedacht werden – nicht mehr nur durch Sales und Abverkäufe, sondern durch Kontakte, den persönlichen Austausch und Reichweite. Wir lernen alle voneinander. Und je mehr Menschen man kennenlernt, desto mehr kann man sich und seine Marke weiterentwickeln.

Vielen Dank euch beiden für das Gespräch!