Warum uns Adriano Goldschmied im Interview Hoffnung macht

Adriano Goldschmied
Foto: Nicholai Fischer

Wir hatten die Ehre, mit Adriano Goldschmied zu sprechen, der legendären Persönlichkeit, die als Godfather of Denim bekannt ist – auch wenn ihm dieser Titel nicht gefällt, wie er uns verrät. Der erfahrene Visionär, der für seinen enormen Einfluss auf die Denim-Industrie bekannt ist, ist heute ein führender Verfechter von Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft in der Mode. In diesem Interview spricht er über seine aktuellen Projekte, die Herausforderungen bei der Förderung von Nachhaltigkeit und verrät, ob er optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft blickt.

Man nennt Sie den Godfather of Denim, und mit diesem Titel, der sehr schmeichelhaft ist, geht sicher auch ein gewisser Druck einher. Wie gehen Sie mit diesem Titel um?
Ich habe diesen Titel von Franca Sozzani, der Direktorin von Vogue Italia. Sie war eine sehr gute Freundin von mir und der Film Der Pate war gerade herausgekommen. Das war in den 80er Jahren. Und beim Abendessen sagte sie zu mir: „Oh, du bist der Pate des Denim.“ Danach, ich weiß nicht, ist es einfach hängen geblieben. Aber Titel im Allgemeinen bedeuten mir persönlich nichts, was zählt ist, was man tut.

Lassen Sie uns über die Projekte sprechen, an denen Sie in letzter Zeit gearbeitet haben, nicht über Ihren Titel.
Meine Projekte haben alle etwas mit Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft zu tun. Ich kann heute sagen, dass ich mit niemandem zusammenarbeite, der diese Säulen nicht ernst nimmt. In meinem Designstudio Genious Group in Los Angeles sind wir Zulieferer für Denim-Designs mit einer ganzen Reihe von nachhaltigen und zirkulären Werten. Ich arbeite auch gerne mit Luxusmarken zusammen. Zum Beispiel habe ich gerade meine Zusammenarbeit mit Tom Ford abgeschlossen oder vor kurzem mit Chloé in Paris an einem Projekt namens Circular Denim gearbeitet. Das war eine sehr aufregende Erfahrung, denn wir haben einen Denim entwickelt, der zu 100 Prozent biologisch abbaubar und recycelbar ist – vom Stoff bis zum Garn und ohne Metallbesatz. Ich möchte die Arbeit der Menschen und ihr Verständnis von Denim beeinflussen. Sobald dieses Verständnis voll kommerzialisiert ist, wird es eine ganze Industrie verändern.

Wie gehen Sie andererseits mit Marken um, die versuchen, Nachhaltigkeitsstandards zu umgehen?
Kommerzielle Marken und große Unternehmen machen aus Imagegründen gerne nachhaltige Kapselkollektionen. Wir mögen keine Capsule Collections, bei denen sie nur eine kleine nachhaltige Auswahl anbieten. Das ist für mich Greenwashing, weil es weder authentisch noch nachhaltig ist. Mit OVS, einem großen italienischen Unternehmen mit 1.700 Filialen in Italien, haben wir keine Capsule Collection gemacht, sondern in kleinen Schritten, Stück für Stück, das Nachhaltigkeitsniveau der gesamten Kollektion angehoben. Nur ein Beispiel: Jeder Stoff, den wir heute verwenden, muss mindestens 10 Prozent recycelte Baumwolle enthalten. Wir können von einem Unternehmen wie OVS nicht verlangen, dass es von Anfang an zu 100 Prozent aus recycelter Baumwolle besteht, denn das würde sich natürlich auf das Geschäft auswirken. Unser Ziel ist es, das Maximum zu erreichen, ohne das Geschäft des Unternehmens zu beeinträchtigen. So ist es auch bei Hugo Boss, mit dem ich jetzt zusammenarbeite. Wir kümmern uns um das Design, aber wir versuchen auch, dem Unternehmen zu helfen, sich in die richtige Richtung zu bewegen – in den Kreislauf.

Adriano Goldschmied und Cheryll Mühlen
Adriano Goldschmied und Cheryll Mühlen Foto: Nicholai Fischer


Apropos Greenwashing: Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Greenwashing und nachhaltigen Geschäftspraktiken?
Das ist ganz einfach. Greenwashing ist, wenn man nur redet, aber keine verlässlichen Beweise für das hat, was man sagt. Wenn ich etwas sage, dann möchte ich jeden mit der Zertifizierung und der wissenschaftlichen Analyse dessen, was wir tun, überzeugen. Deshalb ist es so wichtig, dass in Europa ein Gesetz gegen Greenwashing verabschiedet wurde. Das ist ein ganz wichtiger Schritt.

Die Unternehmen zittern bereits.
Ganz genau. Und ich liebe es!

Sie haben die Menschen und die Branche sehr positiv beeinflusst. Worauf sind Sie persönlich besonders stolz?
Am Anfang – sagen wir circa 1972/73 – ging es vor allem darum, ein schönes Produkt herzustellen und sich von den Jeans, die es damals gab, abzuheben. Es ging um Kreativität, Waschungen, Farben, Stoffe, ohne dass wir irgendeine Verantwortung für das hatten, was wir taten. Wir hatten ja damals keine Ahnung, dass das, was wir taten, so negative Auswirkungen auf die Umwelt hatte. Als ich 1989 zum ersten Mal nach China reiste, wurde mir klar, dass wir mit unseren Geschäften aktiv die Umwelt zerstörten. Es gibt ein sehr berühmtes Foto von Greenpeace, das den vom Indigo blau gefärbten Fluss zeigt. Es ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Von diesem Tag an wusste ich, dass ich etwas ändern musste. Aber wir hatten damals nicht viele Verbündete. Die Leute haben uns nicht ernst genommen und sich nicht um uns gekümmert. Das änderte sich erst Anfang der 2000er Jahre, als die Industrie erkannte, dass man mit nachhaltiger Produktion auch mehr Geld verdienen kann. 

Und die letzten 20 Jahre? Gibt es Erinnerungen, die Ihnen in den Sinn kommen?
Ich begann im Jahr 2000 mit der Lasertechnologie zu arbeiten. Am Übergang von den 90er- zu den frühen 2000e- Jahren tauchte die Ozontechnologie als neue und revolutionäre Entwicklung auf. Bis dahin war die Bearbeitung von Denim eine arbeitsintensive Handarbeit. Die körperlichen Anforderungen waren hoch und es war fraglich, wie die Menschen acht Stunden am Tag durchhalten konnten. Unser oberstes Ziel war es daher, die Prozesse zu revolutionieren und zu optimieren. Heute ist eine Jeans so weit entwickelt, dass im besten Fall nur noch minimale menschliche Eingriffe nötig sind. Das ist eine Leistung, die mich mit großem Stolz erfüllt, denn sie ist nicht allein mein Verdienst, sondern das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen vieler Einzelner.

Die Denim-Geschichte ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man aus Fehlern lernen und positive Veränderungen herbeiführen kann. Ihr Einfluss in der Industrie hat dazu geführt, dass die Menschen zuhören und handeln. Als jemand, der von Anfang an dabei war, haben Sie eine einzigartige Perspektive auf nachhaltige Entwicklung. Wie sehen Sie den aktuellen Stand der Nachhaltigkeit? Sind wir da, wo wir sein sollten, oder gibt es noch Raum für Verbesserungen?
Es gibt immer Raum für Verbesserungen, besonders im Bereich der Nachhaltigkeit. Dabei geht es nicht nur um die Nachhaltigkeit selbst, sondern auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Rückverfolgbarkeit der Fasern. Baumwolle ist zwar weit verbreitet, benötigt aber große Mengen an Land, Wasser, Chemikalien, Arbeitskräften und Energie. Wir müssen bessere Alternativen erforschen, wie zum Beispiel Hanf, der eine bemerkenswerte Faser ist. Hanf hat viele Vorteile: Er braucht weniger Wasser, muss nicht großflächig bewässert werden und hat den zusätzlichen Vorteil, dass er den Boden durch die Bindung von CO2 anreichert. In diesem Bereich gibt es viele Möglichkeiten für Fortschritt und Innovation. Man denke nur an das Recycling. Für mich besteht die Herausforderung des Jahrhunderts auch darin, einen Ersatz für Polyester zu finden. Wenn man bedenkt, dass heute wahrscheinlich 70 Prozent der Produkte auf dem Markt aus Polyester oder Kunststoff bestehen. Wir arbeiten daran, aber das wird noch viele Jahre dauern.

Sind Sie der Meinung, dass die Menschen auf Grund von Greenwashing des Themas Nachhaltigkeit überdrüssig sind?
Wissen Sie, es gibt eine Geschichte, die ich in diesem Zusammenhang hervorheben möchte: Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Geschäft. Sie sehen sich um und finden eine Jeans, die Ihnen gefällt. Sie gehen in die Umkleidekabine, schauen sich Ihren Hintern an und entscheiden sich. Was ich damit sagen will: Nachhaltigkeit ist kein Verkaufsargument. Es ist eine Praxis, die man haben muss. Ich mag es, wenn man in ein Geschäft geht und etwas kauft, weil es einem gefällt. Man geht zur Kasse, bezahlt und die Kassiererin sagt: „Herzlichen Glückwunsch. Sie haben sich für den nachhaltigsten Artikel entschieden, den wir im Laden haben“, was bedeutet, dass es etwas ist, das an zweiter Stelle stehen muss, oder? Es ist nicht der Hauptgrund, warum Menschen etwas kaufen. Aber wenn man sieht, dass die Leute Freude an ihrem gekauften nachhaltigen Produkt haben, ist das sehr inspirierend. 

Als Sie vorhin von der Jahrhundertschlacht um Polyester sprachen, welchen Rat würden Sie der jüngeren Generation in unserer Branche geben? Sie sind ja jemand, der Veränderungen miterlebt hat, die einst unerreichbar schienen. Welchen Rat würden Sie ihnen mit auf den Weg geben?
Es ist ein einfacher Rat: Lesen Sie das Pflegeetikett, wenn Sie etwas kaufen. Wenn da Nylon oder Polyester draufsteht, vor allem bei Jeans, dann kann man es sich sparen. Wenn Sie heute ein Oberbekleidungsstück kaufen, haben Sie keine andere Wahl, oder? Die technischen Eigenschaften von Nylon und Polyester können wir noch nicht erreichen – aber wir werden es schaffen. Ich glaube, die Natur hat alle Zutaten, die man braucht, um Dinge zu verändern. Das ist unser verborgener Schatz. Wir müssen nichts erfinden. Ein gutes Beispiel ist natürliches Indigo, das aus Zuckerrohr gewonnen wird. Zuckerrohr gibt es doch, oder? Es ist hier.

Ich finde es sehr interessant, dass Sie sagen, wir haben alles, was wir brauchen. Vielleicht wissen wir nur nicht, wie wir es nutzen können?
Ganz genau. Denken Sie an Holz, daraus kann man Fasern machen. Wir recyceln Abfall. Wir können Lebensmittel verwerten. Wir müssen begreifen, dass Abfall heute einen echten Wert hat.

Wenn Sie einen Wunsch an die Industrie hätten, der in Erfüllung ginge, welcher wäre das?
Ehrlich gesagt, kein Erdöl mehr zu verwenden. Es zerstört den Planeten. Das bedeutet Umweltverschmutzung. Das bedeutet Plastik. Das bedeutet Kunststofffasern. Ohne sie hätten wir einen anderen Planeten. Ich weiß, dass ich Einfluss habe. Und mit Einfluss kommt Macht. Für mich ist es wichtiger, meine Erfahrungen an die neue Generation weiterzugeben und ihr eine gute Strategie für die Zukunft zu vermitteln. Die Menschen kaufen ein Produkt, weil es ihnen gefällt. Unsere Aufgabe ist es also, Produkte herzustellen, die die Menschen wollen und die gleichzeitig nachhaltig sind. Auch die Politik scheint sich mehr zu engagieren. Das macht mir Hoffnung.

Es geht darum, mit gutem Beispiel voranzugehen, damit andere folgen.
Das Wichtigste ist, dass man es nicht alleine schafft. Man muss ein Team von Leuten zusammenstellen, die es gemeinsam tun. Wenn ich so darüber nachdenke, ist das auch eine große Veränderung, die ich miterlebt habe. Als ich als Direktor eines Unternehmens anfing, war alles ein Geheimnis. Jetzt wissen wir, dass wir die Dinge zum Besseren wenden können, wenn wir unser Wissen teilen. Es gibt nur Gewinner, wenn wir zusammenarbeiten.