Was ist heutzutage noch ‚außergewöhnlich‘ und worin zeigt sich wirkliches Talent? Es sind Fragen, die sich Fabio Piras, Studiendirektor des renommierten Central Saint Martins College of Art and Design in London, wohl täglich stellt. In seiner zusätzlichen Rolle als Juror der Dr. Martens Design Callenge, bewertet er die kreativen Preziosen seiner Schüler:innen. Wer trifft den aktuellen Zeitgeist? Welches Design ist besonders funktional? Und wie gelingt es, sich im hart umkämpften Jung-Designer:innen-Markt durchzusetzen? Wir haben ihn gefragt.
Lieber Fabio, Ihnen begegnen Semester für Semester immer wieder neue Talente. Woran erkennen Sie besondere Ausnahme-Designer:innen und -Künstler:innen und worauf achten Sie besonders während der Dr. Martens x Central Saint Martins Design Challenge?
Zuallererst müssen wir unsere Definition von ‚außergewöhnlich‘ in Frage stellen. Die Identifizierung aufstrebender Designer:innen ist Teil einer Reise zur eigenen Klarheit, die wir mit allen Student:innen des Studiengangs unternehmen. Aufstrebende Designer:innen werden an ihrer Fähigkeit erkannt und gemessen, Klarheit in ihren Plänen und Ambitionen zu zeigen und sich dem Kontext ihrer Arbeit bewusst zu sein. Wem dies gelingt, wird sich selbstbewusst weiterentwickeln können. Dis Basis besteht jedoch zunächst daraus, kreative Ideen zu sammeln, zu pflegen, umzusetzen und zu kommunizieren. All das macht Talent am Ende aus.
Während der Dr. Martens x Central Saint Martins Design Challenge hat es mich nicht unbedingt überrascht, dass sich die Studierenden sofort mit der Heritage der Traditionsmarke auseinandergesetzt haben. Den meisten ist Dr. Martens ja ein Begriff. Die Aufgabe der Studenten im Rahmen des Programms 2023 sah vor, dass sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen und einen Look rund um den eigens angefertigten 1460er-Stiefel gestalten sollten. Es hat mich wirklich nachhaltig beeindruckt, wie tief die emotionale Verbindung einiger Studierende mit der Brand ist und welche persönlichen Erinnerungen mit ihr verknüpft sind. Mir war es wichtig, nach kreativen und realistischen Interpretationen des Dr. Martens-Stiefels 1460 zu suchen, die Begehrlichkeit, den aktuellen Zeitgeist und die Funktionalität verkörpern.
Den neun Finalist:innen Alti Geir Alfredsson, Joyce Bao, Dhruv Bandil, Yanya Cheng, Alvaro Mars, Valeria Pulici, Maximilian Raynor, Traiceline Pratt und Finlay Vincent ist dieses Zusammenspiel besonders gut gelungen. Im Februar 2024 werden gleich vier Gewinner:innen bekannt gegeben, die jeweils ein Stipendium in Höhe von 5.000 Pfund erhalten, um die eigenen Designideen und -wünsche während ihres letzten akademischen Semesters weiterzuentwickeln und auszubauen.
Was müssen Jungdesigner:innen heutzutage Ihrer Meinung nach mitbringen, um erfolgreich zu sein und wie haben sich die Ansprüche über die Jahre verändert?
Ausgeprägte Begabung und künstlerisches Talent sind natürlich notwendig, aber sie sind nicht alles. Genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, ist die Fähigkeit, sie zu managen. Authentizität und das Verständnis für die menschlichen Zusammenhänge, die sie umgeben, sind für jeden jungen Designer:innen von entscheidender Bedeutung. Wir leben in einer Zeit, in der Ethik und das Bewusstsein für individuelle und kollektive Verantwortung sowie Klimagerechtigkeit Teil ihrer Bestrebungen sein sollte. Diese Überzeugung wird dann auch von ihrer Mode sprichwörtlich (weiter-)getragen.
Die neuen technischen Möglichkeiten können auch vieles für Kreative vereinfachen und Prozesse zunehmend ergänzen. Wie relevant sind diese technischen Neuerungen für Sie, setzen Sie sich mit diesem Thema am College auseinander und was implementieren Sie vielleicht bereits bei Ihnen im Lehrstuhl bzw. im Unterricht?
Wir glauben an die Entwicklung von Denkweisen und Fähigkeiten, die mit dem Handwerk der Herstellung von Kleidung verbunden sind. Gleichzeitig auch an die Förderung von Innovationen durch konstruktive Unterbrechungen und verantwortungsvolle Entscheidungen. Wir ermutigen unsere Studierenden, kreative Lösungen im Handwerk und in kleineren Produktionen zu finden und Technologie eher wieder zu vermenschlichen. Dabei ermöglichen wir auch digitale Experimente und Kommunikation, indem wir den Studierenden Wege aufzeigen, sich mit neuen Werkzeugen, Methoden, Systemen und notwendigem Wissen auseinanderzusetzen, die ihre berufliche Praxis, ihre Bandbreite an Möglichkeiten und auch ihre persönliche Vorstellungskraft erweitern.
Kunst vs. Kommerz: Der Zeitgeist verändert sich in der heutigen Gesellschaft schnell. Wie kann eine Marke, die einen gewissen Vorlauf bei Design und Produktion benötigt, trotzdem darauf eingehen und wie wichtig sind Trends wirklich, um kommerziellen Erfolg zu haben? Was würden Sie Ihren Studierenden raten, die kurz davor stehen ein Label zu gründen oder ihre erste Kollektion zu veröffentlichen?
Mein Rat ist, dass sie sich ganz auf sich selbst und den Wunsch, Mode auszudrücken, zu verlassen. Es ist wichtig, den Wert einer organisch wachsenden Entwicklung und kleinen Produktion erkennen, statt zu glauben, es gebe nur ein einziges Modesystem und Abkürzungen, die einen schneller ans Ziel bringen. Wer sich von diesen Vorstellungen löst, wird seinen Weg machen. Es gelingt mir aber natürlich nicht immer, die Studierenden zu ermutigen, sich nicht in eine ‚Ich bin eine Marke‘-Kultur einzukaufen, wenn sie noch nicht bereit sind, eine zu sein. Ich möchte, dass sie schätzen, dass sie erst am Anfang ihrer individuellen Projekte stehen. Ich unterstütze ihren Unternehmergeist – wie naiv er auch sein mag –, sage ihnen aber auch, dass sie sich dabei das notwendige Wissen und Netzwerk aneignen müssen. Die Berufspraxis allein verfeinert und erweitert ihr Können, bietet Aufstiegschancen und sichert schlussendlich auch den Lebensunterhalt, um eine Grundlage zu haben, sich einen unverwechselbaren Namen zu machen und gehört, beziehungsweise gesehen zu werden.
Was ist Ihre persönliche Vision, wenn wir über Mode der Zukunft sprechen?
In meiner Vorstellung besteht die Zukunft der Mode darin, nachhaltige Lebensgrundlagen zu fördern und zu erschaffen. Das bedeutet auch, dass wir für unsere Entscheidungen zu Materialen und Fertigungen verantwortlich sind. Prozesse innerhalb des Designs gilt es zu überdenken, um sie gerechter, menschlicher und umweltfreundlicher zu machen, unabhängig von unseren kreativen und kommerziellen Ambitionen.
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