Kleidung aus Menschenhaar. Eine Vorstellung, die bei vielen Ekel auslöst. Das Start-up Human Material Loop könnte diese Reaktion bald ändern, denn die positiven Argumente für den ungewöhnlichen Rohstoff sind einfach zu gut.
Wieso produzieren wir ohne Ende Textilien in Zeiten von Rohstoffknappheit? Was ist nachhaltig an Naturmaterialien wie Wolle, wenn sie doch so ressourcenintensiv sind? Und warum sollten Tiere für Mode leiden? Diese Fragen stellte sich Unternehmerin Zsofia Kollar. Ihre Lösung? Klingt fast zu simpel, um wahr zu sein, haben wir sie doch direkt vor unserer Nase. Oder genauer gesagt, gut zehn Zentimeter über ihr. Denn pro Jahr werfen wir rund 70 Millionen Kilogramm eines vielversprechenden Rohmaterials einfach weg, nämlich Haare. Im Jahr 2021 gründete Zsofia zusammen mit Leonardo Avezzano deshalb Human Material Loop (HML), ein Start-up, das menschliches Haar recycelt und in Garn verwandelt. Daraus sollen Textilprodukte entstehen, die Schafwolle und Co. qualitativ ebenbürtig sind. HML ist dabei tatsächlich das erste Unternehmen, das eine Technologie entwickelte, um diese unentdeckte Biomasse in großem Stil zu nutzen. Denn, obwohl es genauso wie Tierhaar aus Keratin besteht, ist die Struktur von Menschenhaar etwas anders als bei Wolle und Co. Und das macht die Verarbeitung komplizierter. Dennoch fragt man sich, warum eine solch enorme Ressource nicht schon viel früher genutzt wurde. Die Eigenschaften von Menschenhaar sind nämlich beeindruckend: Frei von Chemie, leicht, flexibel, reißfest, isolierend und stark. Ein Bündel Haare kann bis zu zwei Tonnen Gewicht tragen und ist damit mit Stahl zu vergleichen. Und im Gegensatz zu erdölbasierten Fasern bzw. jener tierischen Ursprungs, ist es weder mit Umweltverschmutzung noch mit Leid verbunden. Der einzige Unterschied: An das Tragen von Tierhaar sind wir gewöhnt, das abgeschnittene Haar fremder Menschen dagegen empfinden viele von uns als ekelhaft.
Das Haar in der Suppe
In fast allen Kulturen stehen Haare für Identität und Herkunft, wurden sogar zur Kommunikation genutzt. Sobald Haar abgeschnitten ist, wird es allerdings wertlos, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die schätzungsweise 2,2 Milliarden Kilogramm Keratinfaserabfälle, die weltweit Jahr für Jahr allein in Friseursalons anfallen, sind eine enorme Ressource, die im Müll landet. Aber etwas so menscheneigenes als Kleidung zu tragen – das ist für viele absurd und sorgt auch in der Modewelt immer wieder für hochgezogene Augenbrauen. Avantgardisten wie Martin Margiela, Alexander McQueen oder Thierry Mugler setzten Menschenhaar in ihren Kollektionen als provokatives Mittel ein und schufen dabei unvergessliche Modemomente. Zuletzt setzte Schiaparelli-Chefdesigner Daniel Roseberry für seine H/W-2024-Show Akzente mit Krawatten aus geflochtenen Haarzöpfen. Im Gegensatz zum surrealistischen Schmuck des Hauses wohl keine zukünftigen Verkaufsschlager.
Bleibt immer noch die Frage, warum wir Krawatten aus Seide für normaler halten, als jene aus Haar. Googelt man nämlich nach Videos, wie echte Seide hergestellt wird, kommt einem diese Diskrepanz noch eigenartiger vor. Spoiler: Es löst höchstwahrscheinlich ebenfalls Ekel aus. Zeitgeschichtlich gesehen, wurde Menschenhaar in einigen Kulturen immer schon für Kleidung eingesetzt. Im 13. Jahrhundert wob man im Südwesten der USA Socken aus Haar, der mikronesische Stamm der Kiribati knüpfte sogar Kriegsrüstungen aus Naturmaterialien wie Kokosnussfasern, Palmblättern und Menschenhaar. Dieser Gedanke von Haar als Rohstoff verlor sich im Laufe der Jahrhunderte, nicht aber unsere intime Beziehung zu ihm. Damit hat auch Human Material Loop zu kämpfen, besser gesagt mit übertriebenen Sorgen. Bereits auf der Website wird deshalb mehrmals beschwichtigt: Abgeschnittenes Haar enthält keine Kern-DNA. Soll heißen: der menschliche Datenschutz ist gesichert. Und man kann durch ein zukünftiges Echthaar-Kleidungsstück auch nicht geklont werden, für die ganz ängstlichen unter uns.
Etappensiege
Für das junge Unternehmen läuft es derzeit gut. Von Amsterdam zog man kürzlich mit der gesamten Forschungs- und Entwicklungsabteilung nach Sittard, einer kleinen Stadt in der niederländischen Provinz Limburg, unmittelbar an der deutschen Grenze. Hier fand man das passende Netzwerk an Expert:innen aus dem Bereich des chemischen Recyclings. Seit der Gründung ist man damit beschäftigt, ein Prototyp-Portfolio an Textilien zu schaffen und diese immer weiter zu verbessern. Dafür werden derzeit Haare aus Frisörsalons aus dem Benelux-Raum gesammelt, aufbereitet und verwertet. Wie genau, das ist natürlich Firmengeheimnis. HML recycelt heute aber nicht nur Haare zu Garn, sondern entwickelte vor Kurzem auch noch ein Isoliermaterial für Outdoor-Kleidung. Denn Daunen haben einen hohen Kohlenstoff-Fußabdruck und sind oft nicht tierfreundlich. Die Prototypen einer solchen Outdoor-Jacke und -Hose wurden auch bereits erprobt: Co-Gründer Leonardo Avezzano bestieg darin Anfang des Jahres den Argentinischen Aconcagua. Auf diesem höchsten Berg Amerikas herrschen Temperaturen bis -40 °C und Windgeschwindigkeiten von bis zu 90 Kilometern pro Stunde. Die neuartige Menschenhaar-Kleidung hielt Leonardo dennoch stets warm und bestand damit den Extremtest. Das Geheimnis ist die starke Struktur im Inneren des Isoliermaterials von HML: Die Haare sind eng miteinander verflochten, warme Luft kann aber dennoch zirkulieren und Wärme halten. Im Gegensatz zu Daunen und Kunststoffmaterial behält diese Isolierung auch bei Schnitten und Rissen im Obermaterial ihre Form und läuft nicht aus. Mit sogenannter Stapelfasertechnologie will das Start-up nun die Möglichkeit erforschen, auch aus kürzeren Haarfasern hochwertiges Garn herzustellen und damit endlich eine emissionsarme Alternative zu Wolle und Polyester herzustellen. Solche Stapelfasern werden außerdem dazu verwendet, Schutzbekleidung herzustellen oder Dämmstoff für Gebäude zu erzeugen. Das Potenzial unserer ungenutzten Frisörabfälle wäre damit also enorm.
Falsche Hierarchie im Ökosystem?
Im Laufe des Jahres soll es nun soweit sein: Human Material Loop bringt bald das erste Produkt auf den Markt. Ob die über so lange Zeit antrainierten Berührungsängste weiterhin bestehen, wird sich dann zeigen. Berührungsängste, die wir mit Tierhaar wie gesagt nicht haben und die auch ein wenig hochnäsig sind. Zumindest bringt Gründerin Zsofia Kollar das Problem in einem Statement damit auf den Punkt: „Ich möchte mit unserem Unternehmen klarmachen, dass wir als Menschen nur Teil des Ökosystems sind – und nicht über ihm stehen.“
Mehr unter humanmaterialloop.com.